“Bitcoin ist wie die Tulpenblase!” — Dieses Scheinargument taucht in Bitcoin-Diskussionen regelmäßig auf. Kritiker nutzen den historischen Vergleich, um die digitale Währung als reine Spekulation abzutun. Es ist Zeit, mit diesem hartnäckigen Mythos aufzuräumen. Denn wer die wahre Geschichte der Tulpenmanie kennt und die Psychologie heutiger Bitcoin-Hodler versteht, erkennt schnell: Hier werden Äpfel mit Birnen verglichen.
Die Realität ist faszinierender als der Mythos und zeigt, warum Bitcoin-Hodler psychologisch das exakte Gegenteil der damaligen Tulpen-Spekulanten darstellen.
Die wahre Tulpenmanie: Eine Elite-Spekulation, kein Massenwahn
Vergiss alles, was du über die Tulpenmanie zu wissen glaubst. Die Archivforschung der Historikerin Anne Goldgar hat die populären Mythen gründlich zerlegt. Die Tulpenspekulation war keine wirtschaftsweite Katastrophe, sondern eine sehr begrenzte Spekulation innerhalb einer winzigen Elite.
Die harten Fakten: Nur etwa 350 Menschen in den Niederlanden waren beteiligt. 285 in Haarlem, 60 in Amsterdam, 25 in Enkhuizen. Das war’s. Keine Bauern, die ihre Höfe verpfändeten. Keine Handwerker, die ihre Werkstätte verkauften, sondern wohlhabende Kaufleute, Brauer, Chirurgen und Fachhandwerker. Menschen, die es sich leisten konnten, erhebliche Summen zu verlieren.
Diese elitäre Gruppe war extrem vernetzt: Viele waren miteinander verwandt, teilten religiöse Zugehörigkeiten (besonders die Mennoniten) und lebten in denselben Vierteln. In dieser geschlossenen Gesellschaft kannte jeder die Geschäfte des anderen. Der soziale Druck war immens.
Ein Beispiel aus den Gerichtsakten: Am 6. Februar 1637 kaufte der Böttcher Andries de Busscher in der Amsterdamer Taverne “Menniste Bruyloft” ein Pfund Tulpenzwiebeln für 1.100 Gulden, zu einem Preis, den damals ein schönes Bürgerhaus gekostet hätte. Am nächsten Tag weigerte sich der Käufer, den Vertrag zu erfüllen. Der Grund dafür: Gerüchte über fallende Preise und die Angst, noch bessere Deals zu verpassen.
FOMO, Status und sozialer Druck: Die Psychologie der Tulpen-Spekulanten
Die Tulpen-Spekulanten waren von drei psychologischen Kräften getrieben:
1. Fear of Missing Out (FOMO) in Reinkultur
In der kleinen, vernetzten Kaufmannsgemeinschaft bedeutete Nichtteilnahme sozialen Ausschluss. Wer nicht mitspielte, verlor den Zugang zu wertvollen Geschäftsnetzwerken und kulturellem Kapital. Die Angst, von den wichtigsten Gesprächen der Zeit ausgeschlossen zu werden, trieb rational denkende Kaufleute in irrationales Verhalten.
2. Statusdenken und Luxus-Display
Tulpen waren wie teure Designeruhren heute — reine Statussymbole, die Reichtum und kosmopolitischen Geschmack demonstrierten. Anders als traditionelle aristokratische Statusmarker wie Adelstitel, Wappen oder Familienländereien, die nur durch Geburt oder königliche Gunst erworben werden konnten, waren Tulpen für jeden mit ausreichend Geld käuflich. Gleichzeitig signalisierten sie kulturelle Raffinesse und Weltgewandtheit — perfekt für eine neue Kaufmannsklasse, die zwar reich, aber nicht adelig war.
3. Sozialer Druck in geschlossenen Zirkeln
Die Geschäftsabschlüsse fanden in Tavernen statt, angeheizt durch Tabak und Alkohol. Die Kombination aus Gruppendruck, kompetitivem Bieten und sozialer Beweisführung durch bestimmte Geschäftsabschluss-Rituale vor Zeugen schuf perfekte Bedingungen für eskalierende Spekulation. Wenn respektierte Kaufleute investierten, interpretierten andere dies als Beweis für rationales Verhalten.
Das Ergebnis: “Switsers-Tulpen” — eine besonders begehrte rot-weiß gestreifte Tulpensorte — stiegen in nur einem Monat von 125 auf 1.500 Gulden pro Pfund. Eine zwölffache Steigerung durch reines kompetitives Bieten.
Bitcoin-Hodler: Die Anti-Tulpen-Mentalität
Hier wird es interessant. Denn die Psychologie der Bitcoin-Hodler ist diametral zu den damaligen Tulpen-Spekulanten:
Von FOMO zu HODL: Bewusste Anti-Spekulation
Während Tulpen-Spekulanten schnelle Gewinne und sozialen Status suchten, praktizieren Bitcoin-Hodler bewusst niedrige Zeitpräferenz. Sie verzichten auf heutigen Konsum für langfristige Wertspeicherung. “Hold On for Dear Life” ist eine Absage an kurzfristige Marktpsychologie.
Von Luxus-Display zu Anti-Konsumhaltung
Bitcoin-Hodler lehnen oft ostentative Konsumgüter ab. Sie sehen Bitcoin nicht als Prestigeobjekt wie damals die Tulpen, sondern als Schutz vor Geldentwertung. Statt zu protzen, wird gespart und akkumuliert.
Von Elite-Zirkeln zu globaler Philosophie
Die “Bitcoin-Standard”-Bewegung hat eine kohärente ökonomische Theorie entwickelt (Österreichische Schule, Deflation vs. Inflation). Bitcoin-Communities fokussieren auf Bildung und Überzeugung statt auf Gewinnmaximierung. Podcasts, Bücher, Konferenzen — das erinnert mehr an eine philosophische Bewegung als an Spekulation.
Die Lebenszeit-Philosophie
Hodler haben eine fundamentale Wertephilosophie entwickelt: Fiat-Geld “stiehlt” Lebenszeit durch Inflation, Bitcoin “konserviert” sie. Diese Sichtweise ist das genaue Gegenteil spekulativer Gier.
Warum hält sich der Vergleich so hartnäckig?
Der Tulpen-Vergleich ist verführerisch einfach. Oberflächlich sehen beide Phänomene ähnlich aus:
- Extreme Preisanstiege
- Spekulatives Verhalten
- Mediale Hysterie
- Unwissende steigen ein
Aber die Parallelen enden an der Oberfläche. Drei Gründe für die Hartnäckigkeit:
Kognitive Vereinfachung: Komplexe neue Technologien werden gern mit bekannten historischen Mustern erklärt, auch wenn der Vergleich hinkt.
Bestätigungsfehler: Wer Bitcoin skeptisch gegenübersteht, findet in der Tulpenmanie eine willkommene historische “Bestätigung” seiner Skepsis.
Mediale Dramatik: “Bitcoin ist wie Tulpen!” macht eine bessere Schlagzeile als eine differenzierte Analyse der unterschiedlichen psychologischen Dynamiken.
Die institutionelle Transformation
Während die Tulpenspekulation in einer 350-köpfigen Elite endete, hat Bitcoin eine völlig andere Entwicklung genommen. El Salvador wurde zum ersten Land, das Bitcoin als gesetzliches Zahlungsmittel einführte. In den USA wird über Bitcoin-Reserven diskutiert und Länder wie Bhutan minen aktiv Bitcoin. Das schafft eine Legitimität, die Tulpen nie hatten.
Gleichzeitig haben Unternehmen wie MicroStrategy ihre gesamte Treasury-Strategie auf Bitcoin ausgerichtet, was sich auch im Aktienkurs widerspiegelt: von 120 Dollar (2020) auf zeitweise über 400 Dollar. Die Zulassung von Bitcoin-ETFs durch BlackRock und Fidelity bringt zudem institutionelles Kapital in Billionenhöhe in den Markt. Hier handelt es sich nicht um FOMO-getriebene Spekulanten, sondern um institutionelle Investoren mit langfristigen Strategien.
Der entscheidende Unterschied: Netzwerkeffekte vs. Luxusgut
Tulpen waren ein Luxusgut ohne Funktion. Man konnte beliebig neue züchten. Nach dem Crash blieben schöne Blumen für den Garten.
Bitcoin löst reale Probleme und ist mathematisch auf 21 Millionen begrenzt. Nach jedem Crash entstand ein robusteres Netzwerk mit mehr Nutzern.
Die Tulpenblase dauerte drei Jahre, regional begrenzt, dann war sie vorbei. Bitcoin übersteht bereits 16 Jahre, global, und hat vier große Crashs überlebt. Jeder “Todesstoß” machte das Netzwerk stärker.
Der Game Changer: Bitcoin entwickelt echte Netzwerkeffekte. Je mehr Menschen Bitcoin nutzen, desto wertvoller wird Bitcoin. Tulpen hatten diesen Effekt nicht; ihre Vermehrung war unbegrenzt möglich.
Fazit: Aufhören, 400 Jahre alte Blümchen-Geschichten zu erzählen
Der Tulpen-Vergleich schadet der Bitcoin-Diskussion, weil er von den wirklich interessanten Fragen ablenkt. Statt über die monetären Eigenschaften von Bitcoin, seine technologischen Innovationen oder die Philosophie des Hodlings zu diskutieren, drehen wir uns im Kreis um eine 400 Jahre alte echte Spekulationsblase.
Die Ironie: Gerade weil Bitcoin oft mit der Tulpenmanie verglichen wurde, haben institutionelle Investoren lange gezögert. Das erklärt unter anderem die langsame, aber nachhaltige Adoption der letzten Jahre.
Bitcoin-Hodler sind nicht die modernen Tulpen-Spekulanten. Sie sind deren psychologisches Gegenteil: Statt kurzfristigem Status-Denken praktizieren sie langfristige Wertspeicherung. Statt Elite-Networking betreiben sie Bildungsarbeit. Statt FOMO kultivieren sie bewusste niedrige Zeitpräferenz.
Nun ist es an der Zeit, aufzuhören, 400 Jahre alte Blümchen-Geschichten zu erzählen und anzufangen, die Gegenwart zu verstehen. Denn egal ob Tulpe oder Revolution — Bitcoin einfach zu ignorieren, lässt ihn nicht verschwinden. Denn Bitcoin ist gekommen, um zu bleiben.
Quellen:
- Anne Goldgar: “Tulipmania: Money, Honor, and Knowledge in the Dutch Golden Age” (2007)
- Saifedean Ammous: “The Bitcoin Standard” (2018)
- Edward Chancellor: “Devil Take the Hindmost: A History of Financial Speculation” (1999)
- Mike Dash: “Tulipomania: The Story of the World’s Most Coveted Flower and the Extraordinary Passions It Aroused” (1999)
- Gerichtsakten aus dem Haarlemer Stadsarchief und Amsterdamse Stadsarchief (1636-1640)
- Zeitgenössische Pamphlete: “Waermondt ende Gaergoedt” (1637)